Sieben Tage? Richtig gelesen. So kommen sie zusammen: Anfahrt zwei Tage, ein Kulturtag in Nordenham, ein Tag für die eigentliche Tidenrallye von Nordenham zu TURA, drei Tage Nachfahrt nach Waakhausen/Worpswede. Wegen des Himmelfahrtstags werden insgesamt vier der ohnehin immer zu wenigen Urlaubstage benötigt; da stellt sich dann die Frage, ob sich solche Reise lohnt? Vielleicht fällt die Antwort nach der Lektüre des Folgenden leichter.
MITTWOCH: Anfahrt ab TURA
Diese zweitägige Gepäckfahrt ist für viele neu hinzukommende die erste Begegnung mit der Unterweser, und darum wird für die 30 Kilometer das maximal verfügbare Zeitfenster von sechs Stunden veranschlagt. Wer für gewöhnlich flotter unterwegs ist, wird sich darüber wundern. Es ist jedoch bei einer Gruppenfahrt in diesem Revier Einiges zu bedenken: Windrichtung und –stärke, bremsende Wellen, querende Fähren, Berufsschifffahrt unterschiedlichster Tonnage, und nicht zuletzt das Tempo der langsamsten.
Strenge Fahrtenleiter – klare Regeln – kooperative Kanuten.
Vor Antritt der Fahrt zum Harriersand wurden von allen 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmern für etwa eintretende medizinische Notfälle die Daten zur Verständigung der Angehörigen oder sonstiger Bezugspersonen bei garantiertem Datenschutz gesammelt. Für die Mehrzahl der Kanutinnen und Kanuten war das neu, wurde aber mit Interesse und gern angenommen. Ohne Schwimm-/Rettungsweste fuhr niemand. Der Schluss und die Spitze wurden von den mit Sprechfunkgeräten ausgestatteten Fahrtenleitern besetzt. Wem das Tempo zu langsam wäre, der solle, so der Rat der Fahrtenleiter, sich bis zum Schlussmann abfallen lassen, um dann mit ihrem/seinem gewöhnlichen Reisetempo wieder bis zur Spitze aufzuschließen.
Alle hielten sich daran.
Wind.
Windig aus Nordwest war es schon bei der pünktlichen Abfahrt. Revierkundige wissen jedoch: bei TURA kann das Wasser „kochen“, und in Vegesack ist der Wind nur halb so kräftig. Diesmal war’s umgekehrt. Weder im lokalen, noch im regionalen Wetterbericht ist davon etwas zu sehen oder zu hören, so dass nur eigenes Nachgucken hilft. Auf der unteren Lesum wurden als Minimum 45 km/h Windgeschwindigkeit gemessen, als Maximum 72 km/h, weiterhin aus Nordwest. Bis Vegesack benötigte die Gruppe eineinviertel Stunde. Der Blick auf die Weser war für alle so überzeugend, dass niemand Einwände gegen das Ansteuern des Hafens Vegesack hatte. Ebenso leuchtete allen ein, dass bei diesen Bedingungen Harriersand nicht innerhalb einer Tide zu erreichen wäre. Es hieß also nach kurzer Pause umkehren.
Die Fahrtenleiter überraschen.
Auf dem Rückweg zu TURA galten dieselben strengen Regeln wie auf der Hinfahrt, und doch gab’s eine kurzfristig angekündigte Überraschung: für den letzten Kilometer hieß es „freie Fahrt“! Jede und jeder konnte nun so schnell fahren, wie sie oder er wollte. Das hat allen gut gefallen, denn insbesondere mit beladenem Boot fällt es nicht leicht, sich dem Tempo des langsamsten anzupassen.
Bild 1: Wind gegen Strom auf der Lesum, da werden die Wellen schon mal größer
Hilfsbereitschaft.
Bei TURA wurde beschlossen, auf andere Weise weiter zu reisen. Der Transfer von Booten und Frau-/Mannschaften zum Harriersand wurde vorgeschlagen und gleich wieder verworfen; Nordenham hingegen akzeptiert. Und dann gab’s die nächste Überraschung: Ruckzuck waren Boote und Besatzungen verteilt; teils auf Fahrwillige, teils auf den Vereinsanhänger von TURA und das vom Ersten Vorsitzenden gelenkte Zugfahrzeug. Auf der Fahrt nach Nordenham entstand dann auch ein kurzer Dankesvers: „Lieber Lutz, wir danken Dir, ohne Dich wär’n wir nicht hier.“ Alle waren bei der Ankunft so froh, dass ihnen die (eis)heiligen Temperaturen nichts anhaben konnten. Die Zeltmöglichkeiten direkt am Hafen waren ausgezeichnet, wenn auch der Weg zum Vereinsheim des WSV Nordenham mit der dortigen Kücheneinrichtung manchem etwas weit erschien. Die meisten Ankömmlinge waren jedoch küchenseitig voll ausgerüstet und nutzten die über den Platz verteilten Tisch-Bank-Kombinationen für das Abendessen, einige wählten die vor dem Wind schützende große Grillhütte, während andere der Empfehlung für die örtliche Gastronomie folgten. Verdient, meinten diese, hätten sie sich diesen Luxus allemal.
DONNERSTAG: zum Fischessen nach Brake.
Der Ausflug von 60 Teilnehmern per Boot nach Brake fand bei deutlich weniger Wind und fast „frühsommerlich“ zu nennenden Temperaturen statt. Er bot mit dem Weg durch die Schweiburg ganz neue Eindrücke von der Landschaft und endete -das ist neu- diesmal am Sportbootanleger bei der Fähre. Obwohl der Schwimmsteg nicht für Kanus ausgelegt ist, gelang allen der Aus- und Einstieg ohne Kenterung. Wo es kritisch zu werden drohte, halfen Kameradinnen und Kameraden.
Bild 2: 60 Teilnehmer legen ihre Boote auf dem Steg vor Brake ab - geht gut!
Ich wollte die Sonderausstellung „Maritime Malerei und Grafik“ nicht unter dem Diktat der Tide ansehen, und bin deshalb mit dem Zug gefahren. Nach dem Fischessen in gewohnt guter Qualität („Allein dafür lohnt die Tidenrallye“, hörte ich Kanuten aus Hessen schwärmen) war ich mit einer jungen Dame verabredet, die sich intensiv mit der Sonderausstellung beschäftigt hatte. Sie wusste wirklich genauestens Bescheid, und so wurde es eine sehr interessante Stunde im Museum. Der Zug und ein Taxi (Kulturgenuss erschöpft doch mehr als Paddeln) brachten mich zeitgleich mit den Paddlern zurück zum Sporthafen Großensiel. Dort begegnete mir ein Auto mit österreichischem Kennzeichen und einer jungen Dame am Steuer. Wir grüßten einander, dann war sie fort. Sollte, fragte ich mich, der Ruhm der Weser-Tidenrallye etwa schon bis nach Österreich gedrungen sein? Später am Abend begegnete sie mir erneut, diesmal ohne Auto, und da konnte ich nachfragen. Ihre Antwort lautete, hochdeutsch wiedergegeben: „Eher nein als ja. Mein Schwager wohnt in Nordenham, er hat ein Motorboot hier im Hafen, die Kinder haben Ferien, da sind wir halt gekommen. Aber vor zwei Jahren war ich schon einmal hier, da gab’s diese Rallye auch, da hab ich beim Start zugesehen, und jetzt ist’s halt wieder soweit. Es stand ja auch etwas in der Zeitung darüber, und als ich’s gelesen hab, hab ich mich gleich erinnert und gedacht, das kennst du ja.“
Bild 9: Auf der Rückfahrt von Fischessen in Brake sehen die Teilnehmer einen Schweinswal auf der Unterweser
Feuer im Sporthafen.
Nein, es ist von keinem Unglück zu berichten. Meines Wissens hat es bei keiner früheren Tidenrallye ein Lagerfeuer mit Blick auf die Weser gegeben. Gegrillt wurde natürlich immer, aber ein richtiges rundherum offenes Feuer mit Weserblick, das war neu. Der Donnerstagabend war wieder merklich kühl, und ein findiger Kopf hatte die Feuerstelle in der großen Grillhütte entdeckt. Es dauerte nicht lange, da gesellten sich die ersten Neugierigen dazu, verschwanden für kurze Zeit, kamen mit Bruchholz zurück, und so brannte das wohltuend wärmende Feuer bis zum späten Abend. Erzählt wurde natürlich auch; von Reiseträumen, stürmischen und sonnigen Tagen auf dem Wasser und, natürlich, von früheren Tidenrallyes.
Bild 3: Lagerfeuer in der Grillhütte im Großensieler Hafen
FREITAG: das Kulturprogramm.
Dieses Mal bildeten Geschichte und Entwicklung der 1908 gegründeten Stadt Nordenham den einen, und ein sehr informativer Vortrag zur Sicherheit auf dem Wasser (auch das ist „Kultur“) den anderen Bestandteil des Kulturprogramms. Schwerpunkt der eineinhalbstündigen Stadt-führung durch Herrn Dr. Waßhausen war die Bedeutung der Weser für Nordenham. Die bis an die Kaje des einzigen Hafens in Privatbesitz in Deutschland reichende Fahrwassertiefe sei, so erfuhren wir, einer besonderen geologischen Formation geschuldet. Deren Kenntnis hatte Bürgermeister Smidt bewogen, mit dem Großherzog von Oldenburg über den Kauf von Land für einen bremischen Außenhafen ebendort zu verhandeln. Der aber habe sich stur gezeigt, und so wäre Bremerhaven am Ostufer der Weser entstanden, obwohl von Anfang an klar war, dass dort zum Erhalt der Fahrwassertiefe immer wieder gebaggert werden müsse.
Nordenham, erfuhren wir ferner, war der größte Ochsen-Exporthafen Deutschlands, beherbergte den größten Öllagerplatz der Welt und war Deutschlands größter Fischereihafen. Zudem sei Nordenham die Stadt mit dem bundesweit höchsten Wohnungseigentum und aktuell Teil-Produktionsstätte des weltweit größten Flugzeugs. Während des Baus der Kaiserschleuse in Bremerhaven hätte die Verschiffung der Auswanderer von Nordenham aus geschehen müssen, aber der Norddeutsche Lloyd habe als Ausgangshafen unverändert Bremerhaven angegeben. Viele Auswanderer haben den Start in den neuen Lebensabschnitt von Nordenham aus jedoch gar nicht gemerkt, denn die Sonderzüge für sie wurden in Bremen zusammengestellt und lediglich mit dem Schiffsnamen gekennzeichnet.
Auch das Rätsel der Schreibweise mit nur einem „m“ wurde aufgelöst: ein Katasterschreiber in Oldenburg hat einmal den früher bei Konsonantenverdoppelung üblichen waagerechten Strich über dem einen „m“ vergessen, und als die Großherzoglich Oldenburgische Eisenbahn für Nordenham Bahnhofschilder in Auftrag gab, enthielten die mit allergnädigster Erlaubnis der Großherzogs auch nur ein „m“. Damit war diese Schreibweise endgültig amtlich geworden. Mitten aus unserem Spaziergang durch die Vergangenheit von Nordenham wurden wir mit der gegenwärtigen Situation der Weser und ihrer Bewohner konfrontiert: am Strand lag ein verendetes Schweinswaljunges. Gut informierte Küstenpaddler machten Fotos und schickten sie mit der Ortsangabe unverzüglich an die zuständige Organisation. So weit landeinwärts sind Schweinswale eher selten anzutreffen, wurde mir erklärt, und mir ist bisher auch noch keiner in der Weser begegnet. Wohl aber den Fischessern aus Brake auf der Rückfahrt nach Nordenham – siehe Foto. Schade, dass ich nicht dabei war.
Bild 4: "Der Bruderkuss" hier von Hugo Zieger
Nach der Mittagspause trafen alle Teilnehmer pünktlich im Stadtmuseum ein. Dr. Saunders erläuterte die Entstehungsgeschichte der beiden Varianten des „der Bruderkuss“ genannten Werkes von Hugo Zieger sowohl in maltechnischer, wie auch in kunsthistorischer Hinsicht. Die Ausführung als Fresko geht auf die Anregung von Hermann Allmers zurück, der auch die Geschichte der hingerichteten Häuptlingssöhne Dude und Gerolt Lubben entdeckt hat. Als nach dem Tod von Hugo Zieger die Restauration des Freskos notwendig wurde, erhielt Bernhard Winter den Auftrag. Was ihn bewogen haben mag, Details zu verändern, ist ungeklärt. Das ebenfalls in Nordenham ausgestellte, später entstandene Ölgemälde gleichen Titels von Hugo Zieger liefert Hinweise auf die Veränderungen. Der kunsthistorische und museale Stellenwert der Winterschen Version ist umstritten – auch darauf wies Dr. Saunders hin. Wer, der nicht unmittelbar damit befasst ist, denkt sonst schon darüber nach?
Im Anschluss führte Dr. Saunders kurz durch die gerade eröffnete Sonderausstellung „Zeitungskunst – Zeichnungen in der französischen Presse zur Zeit des Impressionismus“, die den Teilnehmern der Nachfahrt Hinweise auf die für die erste Künstlergeneration in Worpswede wirksamen Einflüsse lieferte. Damit war der kunsthistorische Brückenschlag zwischen Nordenham, Paris und Worpswede gut vorbereitet. Zum Abschluss gab es noch einen Film zu sehen, in dem das Wirken von Wilhelm Müller für die Entstehung der Stadt Nordenham geschildert wurde.
Alle, die dabei waren, wissen nun:
ohne die Sturheit des Oldenburger Großherzogs und ohne Wilhelm Müllers Geschäftssinn sähe die Welt am linken Unterweserufer anders aus. Ob es dennoch je eine in Nordenham startende Tidenrallye gegeben hätte, wissen wir nicht, sind aber dankbar, dass es sie gibt.
SAMSTAG: der Höhepunkt.
Einbooten.
Der Tag begann für Viele mit einem Blick zum Himmel: wie wird das Wetter, woher kommt der Wind, wie stark wird er blasen, wenn wir auf der Weser unterwegs sind? Die Anzeige des erst an einem der Vortage montierten Anemometers ließ auf einen guten Start hoffen 4 Beaufort aus Südwest Ab etwa 7.00 Uhr war überall jenes geschäftige Treiben zu beobachten, das unbefangene Beobachter vermuten lässt, Kanuwandern sei nichts als ein Vorwand zum mit Leidenschaft und Hingabe betriebenen Ein- und Auspacken. Gegen 8.30 Uhr schwammen die ersten Boote im zunehmend von der Tide gefüllten Hafenbecken, und ehe sich der verdutzte Betrachter versah –Start um 10.00 Uhr!–, legten sie auf der anderen Seite an einem der Stege an, die Insassen stiegen aus und verschwanden in der bunten Menge. Dieses Beispiel machte offenbar Schule, denn am Jollensteg kam es zu keinen Staus.
Beim Blick aufs Wasser bot sich beinahe das gewohnte Bild: überall schnittige Boote, viele davon Seekajaks mit eingebauter Lenzvorrichtung. „Das sind Spuckeboote. Wenn da Wasser reinkommt, spucken sie’s einfach wieder hier aus“, hatte mir ein Mädchen von etwa sieben Jahren tags zuvor erklärt und dabei auf die Lenzöffnung gezeigt, „mein Papa hat auch so eins und fährt damit auf der Nordsee, wenn wir im Urlaub sind. Ich fahr da aber nicht mit“. Und weg war sie. Ebenso waren überwiegend moderne Paddel aus Verbundstoffen, spezielle Paddeljacken in leuchtenden Farben, und darüber, anders als in früheren Jahren, bei allen Kanuten Schwimm- / Rettungswesten zu sehen. Das Sicherheitsbewusstsein der Kanuten hat offenbar erfreulich zugenommen.
Zum gewohnten Bild gehörte auch der hölzerne Kanadier, der von zwei ebenso er- wie befahrenen Kameraden zum Ziel bewegt wurde. Dieses Mal anders, und für mich besonders erfreulich, war hingegen das Aufgebot an Faltbooten. Zwei Zweier, einer davon solo gefahren, und fünf Einer konventioneller Bauart, sowie zwei moderne in seekajakähnlicher Ausführung: neun Faltboote! Wann mag es das zuletzt bei der Tidenrallye gegeben haben? Viele Ältere schmunzelten bei diesem Anblick, einige berichteten vom vor Jahrzehnten damit Erlebten: von nicht enden wollenden Bahnreisen, vom „Umsteigetheater“ und von interessanten Verbandsfahrten mit dem Bus auf Herbert Rittlingers Spuren nach Südfrankreich. Die Kombination von Auto und Feststoffboot sei aber einfach bequemer, meinten sie übereinstimmend. „Als weiteres Abenteuer ist das Umsetzen des Autos dazugekommen. Da kann man manchmal mehr erleben als beim Paddeln“, ergänzte eine Dame aus einem Zweier.
Darüber war es spät genug geworden, um Aufstellung für den Start zu nehmen. Die Ansprachen von Hermann Thiebes, Norbert Köhler und Hans Francksen waren nicht überall gut zu verstehen, dennoch herauszuhören waren die guten Wünsche für die Fahrt, und dann kam das Startsignal bei 4 Beaufort aus Südwest…
Bild 5: Das Startsignal ist erfolgt, 320 Kanuten drängen auf die Weser
Auf der Weser.
Wie üblich, hatte sich die Flotte zügig auf den Weg gemacht, und nun bot die Weser rechts vom betonnten Fahrwasser mit ihren in der Sonne glitzernden, vom Wind aufgeworfenen Wellen „ein großartiges Bild: Kanuten, Kanuten und immer mehr Kanuten, die ihre Boote mit schnellen und kräftigen Paddelschlägen dem Horizont entgegen trieben! Da hab ich beinah Lust bekommen, das auch mal zu machen“, berichtete der Schiffsführer von einem der Begleitboote.
Taktik, Technik und Kondition sind die Garanten für das Ankommen am gewählten Ziel.
Über Paddeltechnik und Kondition ist nichts als Bekanntes zu schreiben, und darum wird darauf verzichtet, wohl aber zur Taktik bei der Weser-Tidenrallye. Sie basiert auf der Kenntnis der Tidenverlaufskurve, deren praktische Folgen in der Zwölferregel enthalten sind. Ihr zufolge steigt bzw. fällt der Wasserspiegel in der ersten Stunde einer Tide um 1/12, in der zweiten um 2/12, in der dritten und vierten um je 3/12, in der fünften wieder um 2/12 und in der sechsten Stunde um das verbleibende Zwölftel. Daraus ist die in etwa zu erwartende Fließgeschwindigkeit des Wassers abzuleiten, die jedoch je nach Windrichtung und –stärke, sowohl aktuell, als auch an den voran gegangenen Tagen relativiert wird. Wenn wir die komplizierenden Details weglassen, bleibt als taktisches Konzept übrig:
Bis zum Fähranleger in Brake (17,5 km) ist das höchstmögliche Tempo zu fahren (<2 h),
bis zur Huntemündung (5,5 km) sind die Kräfte etwas zu schonen (< 45 min),
bis zum Silberziel (10,3 km) ist wieder mehr Tempo zu machen (< 1¼ h),
bis Vegesack (5,2 km) wird das meist vorhandene Kabbelwasser mehr Kraft fordern (< 45 min),
und auf der Lesum (5,5 km) kann über die verbliebenen Reserven frei verfügt werden (< 45min)
Wer so fährt, kommt sicher nach fünfeinhalb Stunden bei TURA an. Die Flut läuft von Nordenham bis Tura inzwischen genau 8 h, beim üblichen Start von 1 ½ h nach Niedrigwasser hat man so noch genau eine Stunde bis zum Hochwasser bei Tura.
Das Tempo der Spitzengruppe ist mindestens um die Hälfte höher als das gewöhnlich auf Reisen gefahrene. Wer da mithalten kann, hat nicht nur eine sehr gute Ausrüstung, sondern ist wirklich fit.
Das Durchschnittsalter der Kanuten lag auch dieses Mal bei 40 +, und doch hatten am Ende nur zehn Teilnehmer aufgegeben, während das Gros bis zum Goldziel durchhielt! Vielleicht ist ja doch „was dran“, am Gerede von den „Best-agern“, die angeblich körperlich so fit sind, wie keine Generation vorher? Von alledem war für mich in meinem für Solobetrieb umgebauten behäbigen Faltbootzweier mit vollem Fahrtengepäck nur kurz nach dem Start etwas zu sehen, dann verlor sich das bunte Gewimmel in der Ferne.
Bild 6: Das Silberziel verschwindet gleich hinter dem Tieffahrer
Vorbei am Silberziel, weiter zum Goldziel.
Das nördliche Ende der Hafenanlagen von Brake passierte ich der bremsenden Wellen wegen erst um 12.00 Uhr, das Silberziel erreichte ich als Vorletzter um 14.15 Uhr, als der Tidenzug schon merklich schwächer geworden war. Blieben noch rund eineinhalb Stunden bis zum Kentern der Tide bei TURA und elf Kilometer zu fahren - würde ich das schaffen? Ich war zuversichtlich, denn der Gegenwind war kaum noch zu merken. Es gab wenig Schiffsverkehr, das Kabbelwasser hielt sich Grenzen, und so kam ich recht zügig nach Vegesack, wo ich wie alle anderen vom Präsidenten des LKV Bremen, Norbert Köhler, sowie dem Bootsführer von Bord des Polizeibootes willkommen geheißen wurde und vor der Einfahrt in die Lesum das Passieren der Fähren abwarten musste. Vier Minuten Wartezeit! Wieso bloß hatte ich auf die Uhr geguckt?
Bild 7: JAN vor der Weserquerung zur Lesum
Dann aber ging’s in die Lesum und dort hatte der Wind mit 3 Beaufort aus Südost wohl schon auf mich gewartet, so dass auch die letzten fünf Kilometer zur sportlichen Herausforderung wurden. Erste Segler auf der Heimfahrt unter Motor sorgten für Abwechslung auf dem Wasser, Bekannte grüßten von einem Steg, und dann schien es mir, als hätte der bronzene Admiral Brommy ganz kurz aufmunternd mit dem Kopf genickt. Ich sollte, nahm ich mir vor, bei meiner Ankunft am Goldziel die anderen Kanuten fragen, ob es ihnen ebenso ergangen wäre. Als es dann aber um 15.46 Uhr soweit war, gab es Kaffee und höchst delikaten Kuchen, und darüber habe ich zu fragen vergessen. Ich war als letzter angekommen.
SONNTAG: es geht auch gemütlich.
Die Nachfahrt nach Waakhausen.
Von ursprünglich 20 angemeldeten Teilnehmern waren acht übrig geblieben, aber diese Gruppengröße erwies sich als ideal. Wir fuhren bei strahlendem Sonnenschein pünktlich los; als wohl letzte sportliche Herausforderung gegen die Tide in der fünften Stunde. Was ich zum Zeitpunkt der Planung nicht bedacht hatte, waren Änderungen im Schleusenbetrieb. Zur vollen Stunde wurde weiterhin geschleust, nur die Mittagspause war nunmehr statt von 12.00 – 13.00 Uhr von 13.00 – 14.00 Uhr. Die Wartezeit wurde jedoch mit einem Unterhaltungsprogramm besonderer Art aufgelockert: die Wasserschutzpolizei erschien, nahm die Besatzung eines ebenfalls vor der Schleuse wartenden offenen Motorbootes zunächst in Augenschein und dann ins charmant geführte Verhör. Die anerkennenden Blicke und das freundliche Grüßen des Polizisten am Ruder sind keinem von uns entgangen – wir waren aber auch mustergültige Wassersportler: alle Boote ordnungsgemäß beschriftet, wir trugen allesamt Schwimm-/ Rettungswesten, und niemand von uns behinderte etwa aufkommenden Schiffsverkehr.
Die Hammeniederung hinter der Schleuse und das unwirkliche Licht vom mit lichtem Grau bezogenen Himmel verführten zum Trödeln und Pause machen, so dass wir den ehemals nördlichsten Ausläufer Afrikas, >Neu-Kamerun<, erst nach rund zwei Stunden passierten. Afrika an der Hamme? Das gibt’s doch gar nicht! Doch, der Volksmund macht’s möglich. Offiziell war der hinter dichtem Schilf verborgene Zeltplatz im DKV-Flusswanderbuch unter den Bezeichnung >Dackhull< ausgewiesen, und wer dort einige Sommerwochen verbracht hatte, war meist sehr braun gebrannt, beinahe wie die Bewohner von Kamerun, wohin etliche Bremer Kaufleute bis in den Ersten Weltkrieg Geschäftsbeziehungen hatten. Gerade hatten wir diese Begebenheiten erörtert, da kam auch schon mit >Kiautschau< an einem Haus der nächste Rückblick in die deutsche Kolonialgeschichte. Geblieben ist davon bis in die Gegenwart das nach Bremer Rezept gebraute, nach der Stadt Tsingtau benannte Bier in der seltsam vertraut anmutenden grünen Flasche.
In Waakhausen herrschte anfangs noch reger Betrieb durch radelnde Tagesgäste, denen wir die geöffnete Wurstbude und den Getränkeausschank verdankten. Abends war es wieder still geworden.
MONTAG: Ausflug nach Worpswede.
Der Bus brachte uns bis ins Zentrum, zur Kunstschau war es nicht weit. Alte und neue Kunst gab es schon am Weg zu sehen: geheimnisvoll Abstraktes und ansprechend Figürliches. Letzteres zunächst von Bernhard Hoetger den >Bonze(n) des Humors< aus dem Gründungsjahr des DKV (1914) und gleich darauf den Bacchus gewidmeten Brunnen von Waldemar Otto aus neuerer Zeit. Wir erhielten eine klar gegliederte Führung mit gleich zwei Schwerpunkten: einerseits die Bedeutung von Bernhard Hoetger für Worpswede, andererseits die Anfänge der Malerei in Worpswede.
Bild 8: Die Teilnehmer der Nachfahrt nach Worpswede im Teufelsmoor
Über Hoetger nur soviel: das von ihm entworfene Gebäude der Kunstschau machte erst die besondere Präsentation der in und um Worpswede entstandenen Bilder der ersten Künstlergeneration möglich. Als unser Führer auf die Anfänge der Malerei in Worpswede zu sprechen kam, schlug er, ohne davon zu wissen, die Brücke zu dem erst wenige Tage zuvor in und über Nordenham Erfahrenen und Gesehenen. Während der geschäftstüchtige Wilhelm Müller die Stadtgründung vorantrieb und sich dadurch die wirtschaftliche Lage der Marschbewohner deutlich besserte, hatten die nur rund 50 Kilometer südöstlich beheimateten Moorbewohner keinerlei Aussicht auf Besserung ihrer Situation; während Hugo Zieger mit dem an der Düsseldorfer Akademie Gelernten zum erfolgreichen Porträtisten wohlhabender Bürger wurde, musste die erste, ebenfalls in Düsseldorf ausgebildete Malergeneration neue Techniken entwickeln, um Licht und Stimmung der Landschaft wiederzugeben.
Paula Becker verbrachte zur gleichen Zeit mehrere Studienaufenthalte in Paris, und davon, was ihr dort im Alltag begegnete, hatten wir durch die Zeitungsausstellung in Nordenham einen Eindruck erhalten. Neben dem üblichen Repertoire ist gerade in der Ausstellung zu sehen: das Tryptichon >das tote Kind< und einige nur sehr selten und stets nur für kurze Zeit der Öffentlichkeit präsentierte Zeichnungen von Paula Becker-Modersohn. Zum Ausklang der geballten Kunstpräsentation spazierten wir noch um das montags geschlossene Kaffee „Verrückt“, danach konnte jede und jeder sich nach Belieben in Worpswede umsehen. Am späten Nachmittag waren alle wieder auf dem Platz, und dann gab es noch einen kurzen Ausflug in die Geschichte des Kanusports in der Bremer Region, indem wir uns im Haus, dem ehemaligen >DKV-Wanderheim< umsahen. Vertieft wurde dieser Ausflug noch durch den Besuch von Volker Zimny, der aus seiner Kanusportbiografie berichtete.
DIENSTAG: es geht heimwärts.
Bei besten Wetterbedingungen verließen wir pünktlich um 9.00 Uhr Waakhausen, und auf der Hamme angekommen, konnte es wieder freie Tempowahl heißen. Einzige Vorgabe war, vor 11.00 Uhr an der Schleuse zu sein. Das hielten erwartungsgemäß alle ein. Fünf vor elf, kein Schleusenwärter erscheint. Ich gehe nachgucken, wo er bleibt. Auf der anderen Seite mäht er konzentriert Gras, trägt Lärmschutz auf den Ohren und darum hat er uns wohl gar nicht bemerkt. Ich gehe zu ihm, er blickt auf, versteht, und sagt, er käme gleich. Sein Weg ist kürzer als meiner, und ehe ich noch richtig im Boot sitze, verlöscht das rote Licht, und grünes leuchtet nun einladend an der Schleuse. Das Schleusen geht schnell, mit der letzten Tidenstunde fahren wir stromab. Bei TURA werden Boote und Gepäck verladen, dann heißt es Abschied nehmen.
Die Vorstellung, dass alle versuchen werden, auch an der nächsten Tidenrallye teilzunehmen, scheint mir nicht abwegig. Auf dem Rückweg zum heimischen Bootshaus versuche ich die Eindrücke der zurückliegenden Tage zu ordnen. Es sind zu viele. Etwas ist dennoch bereits erkennbar: wir haben uns in der Geschichte, vor allem der Region, bewegt und der Museen wegen am Blick sehr verschiedener Menschen auf ihre Welt teilhaben können. Wir haben Kamerad- und Hilfsbereitschaft erfahren, Glück mit dem Wetter gehabt und, wer wollte, obendrein noch eine Goldmedaille bekommen. Vor allem aber die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Anfahrt wurden im Respekt vor der Unterweser bestärkt.
Text: Peter-Josef Schünemann (JAN), Adolf-Reichwein-Str. 6, 28329 Bremen